Eine kleine Geschichte aus dem Leben eines Mandanten, vom Alltag meiner Kanzlei und über das Wesen deutscher Strafverfolgungsbehörden
Über Frau Susanna Hellwig (Name geändert) weiß ich nicht viel. Aber einiges weiß ich über Frau Hellwig. Zum Beispiel, dass sie eine wirklich vorbildliche deutsche Staatsbürgerin ist. Eine, wie sie quasi im Geschichtsbuche steht. Eine, die, wenn sie Unrecht zu erkennen glaubt, nicht tatenlos zusieht, sondern tut, was ein guter deutscher Staatsbürger in solchen Situationen eben tut: die Polizei informieren.
Als Frau Hellwig am Morgen des 13. April 2012 gegen 08:40 Uhr die Heinrich-Heine-Straße in Berlin (Straße geändert) entlangschlenderte, sah sie ein Auto am Straßenrand parken. Ganz ordnungsgemäß, in einer langen Reihe anderer parkender Fahrzeuge. In diesem Auto schlief mein Mandant. Und neben meinem Mandanten stand eine leere Bierflasche.
Ach ja, ich weiß noch etwas über Frau Hellwig: Frau Hellwig hat viel Zeit. Sehr viel Zeit. So viel Zeit, dass sie offenbar nicht, wie man es um diese Uhrzeit erwarten könnte, schnell zur Arbeit gemusst hätte, weil sie schon ziemlich spät dran war. Nein, zu einer Arbeit musste Frau Hellwig offenbar nicht.
Aber andere arbeiten um diese Zeit, das wusste Frau Hellwig: die Polizei. Und so rief unsere vorbildliche deutsche Staatsbürgerin mit zu viel Zeit also bei der Polizei an. Für genau solche Fälle gibt es die ja. Für die bezahlen wir ja schließlich unsere Steuern. Und natürlich wählte Frau Hellwig die 110. Was sonst! Nicht die allgemeine Nummer der Polizei, zum Beispiel die 46640, nein, die nicht. Dies hier war natürlich ein Notfall. Da kam nur die 110 infrage.
Und so erschien binnen weniger Minuten ein Streifenwagen der Polizei am Ort des Geschehens. Und darin saßen Herr Polizeiobermeister René Günther und Herr Polizeimeister Stefan Hermann (Name nicht geändert), zwei eifrige deutsche Polizeibeamte.
Wer an dieser Stelle meiner kleinen Geschichte hofft, die beiden Polizeibeamten würden nunmehr das einzig Richtige tun, das, was jeder andere Polizeibeamte in jedem anderen Land dieser Welt tun würde, den muss ich leider enttäuschen. Nein, die beiden Polizeibeamten erkundigten sich nicht in der nächsten Psychiatrie danach, ob dort jemand fehle. Und sie leiteten auch kein Strafverfahren gegen Frau Hellwig ein, zum Beispiel wegen Missbrauchs von Notrufen (§ 145 StGB). Nein, diese Geschichte hat jetzt noch kein gutes Ende. Noch ist für meinen Mandaten Freitag, der 13..
Die Herren Günther und Hermann notierten sich stattdessen die Personalien von Frau Hellwig, erfragten bei ihrer Dienststelle den Halter des Fahrzeugs, öffneten das Fahrzeug an der Beifahrertür, beschlagnahmten die Bierflasche und weckten meinen Mandanten. In genau dieser Reihenfolge. Ordnung muss sein. Und tatsächlich war mein Mandant ziemlich betrunken. Dies soll nicht verschwiegen werden. Immerhin 1,07 Promille ergaben sich beim Pusten. Das ist eine ganze Menge. Nicht genug zwar für eine Straftat, zum Beispiel „Trunkenheit im Verkehr“ (§ 316 StGB). Denn hierzu braucht es 1,1 Promille. ‚Aber wir sind doch keine Korinthenkacker’, werden sich die beiden Polizisten gesagt haben. ‚Nur 0,03 Promille weniger, das sind ja nur 0,003 Prozent. Bei 5 Litern Blut, die der Mensch so hat, sind das nur 0,00015 Liter reinen Alkohols, so viel wie in einer halben Schnapspraline’, werden sie sich ganz geschwind ausgerechnet und sodann gedacht haben: ‚Das ist doch nur noch so wenig Alkohol bis zu einer Straftat, da rufen wir doch mal beim Bereitschaftsrichter an.’
Gedacht, getan.
Von Richter am Amtsgericht Zwölfer-Martin (Name nicht geändert) ist leider der Vorname nicht überliefert. Überliefert ist aber, dass er an diesem Tage Bereitschaftsdienst hatte, als um genau 09:29 Uhr der Anruf von Herrn Polizeiobermeister Günther einging, der ihm das in jeder Hinsicht unfassbare Geschehen schilderte: mein Mandant sei schlafend auf dem Fahrersitz seines Autos angetroffen worden, eine Atemalkoholmessung habe 1,07 Promille ergeben und nun verweigere mein Mandant doch tatsächlich die Blutentnahme.
Wer an dieser Stelle der Geschichte hofft, dass sie aber wohl doch spätestens jetzt zu einem guten Ende kommen würde, übersieht, dass die Hoffnung die ist, die zuletzt stirbt. Nein, Herr Zwölfer-Martin fragte den Polizeibeamten nicht, ob es ihm noch ganz gut ginge oder in welcher Lotterie er denn seine Dienstmarke gewonnen habe. Nein, Herr Zwölfer-Martin ordnete vielmehr die Blutentnahme an. Es würde ja schließlich einen dringenden Tatverdacht geben: Betrunken in einam parkenden Auto schlafen, das ist doch ganz klar Trunkenheit im Verkehr, § 316 StGB. Ist doch logisch. Im Auto fahren oder im Auto schlafen, 1,1 Promille oder 1,07 Promille – wer will denn da so kleinlich sein. Ein deutscher Richter ist schließlich auch einer gewissen Tradition verpflichtet. Und damit hinterher niemand was zu meckern hat, werden aus 1,07 Promille, schwuppdiwupp, mal eben 1,8 Promille:
Und so wurde mein Mandant auf Geheiß von Richter am Amtsgericht Zwölfer-Martin in die Gefangegensammelstelle abtransportiert. Dort stand bereits Herr Medizinalrat Dr. Dieter Rechlin (Name nicht geändert), Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe (!), mit Spritzbesteck in der Hand bereit, seinen Dienst zu versehen. Er entnahm meinem Mandanten eine Ampulle Bluts. Das brachte man ins Landeskriminalamt und untersuchte es. Und es ergaben sich tatsächlich 1,26 Promille. Glück gehabt, Herr Zwölfer-Martin: doch mehr als 1,1 Promille!
Letzte Woche nun bekam ich Post von der Staatsanwaltschaft. Das Ermittlungsverfahren ist eingestellt worden. Selbstverständlich war das Verfahren einzustellen: Betrunken in einem Auto schlafen, ist keine Straftat. Man muss das Fahrzeug schon führen, um sich strafbar zu machen. Der Wortlaut des Gesetzes ist da ziemlich eindeutig. Auf die Promillezahl kommt es hierbei übrigens noch nicht einmal an. Wer im Auto schläft, kann so betrunken sein, wie er will. Qui dormit, non peccat. Wer schläft, sündigt nicht.
Frau Hellwig wird nun einen Brief von mir bekommen. Darin werde ich sie unter Hinweis auf § 469 Abs. 1 Satz 1 StPO freundlich bitten, meinem Mandanten die ihm entstandenen Rechtsanwaltskosten zu erstatten. „Gute Frau Hellwig! Beim Lesen der Ermittlungsakte haben mich am meisten Ihr Geburtsjahr (1965) und Ihr Geburtsort (Köln) verwundert. Wegen Nichtigkeiten nach der Staatsmacht zu rufen und unbekannte Mitmenschen zu denunzieren, hätte ich eigentlich eher deutschen Mitbürgern zugetraut, die in einer ganz anderen Zeit und/oder in einem ganz anderen Landesteil sozialisiert worden sind. Aber so kann man sich irren. In diesem Sinne: Immer schön die Hände an die Hosennaht, Frau Hellwig!“