Herr Polizeimeister Bolek von der Einsatzhundertschaft der Direktion 1 des Polizeipräsidenten in Berlin traute seinen Augen nicht. Um 17:15 Uhr stand er an diesem 3. April 2013 mit seinem grünen Bulli an der Ausfahrt der „JET“-Tankstelle und wartete darauf, in den Kurt-Schumacher-Damm einfahren zu können. Seinem Vorgesetzten auf dem Beifahrersitz, Herrn Polizeiobermeister Gottlob, troff gerade das Fett der Knacker aufs Hemd, die er mit nur einem Biss halbiert hatte. Herrn Boleks Bockwurst dampfte noch unangerührt vor der Windschutzscheibe. Da raste direkt vor ihnen ein grauer BMW von links nach rechts den Kurt-Schumacher-Damm entlang. „Mit überhöhter Geschwindigkeit“, wie Herr Bolek später in seinem Bericht notieren wird. Das geübte Auge eines Polizisten benötigt kein Messgerät. 150 Meter weiter überfuhr der BMW eine rote Ampel. Sodann entschwand er nach rechts auf die Autobahn in Richtung Hamburg.
Das musste natürlich verfolgt werden. Nicht sofort. Erst mussten noch die zwei, drei Autos, die vor ihnen an der Ausfahrt standen, auf die Straße einfahren. Das dauerte etwas, denn die Straße war ziemlich voll. Bald aber waren sie schon auf dem Kurt-Schumacher-Damm. Das Blaulicht wurde eingeschaltet. Rüber über die Ampel. Rauf auf die Autobahn. Die Verfolgung hatte begonnen.
Zwei Kilometer später war der graue BMW eingeholt. Darin am Steuer Herr K.. Der beteuerte, keineswegs bei „Rot“ gefahren zu sein. Dies allerdings wussten, wenig überraschend, die Herren Bolek und Gottlob viel besser.
17 Monate später vor dem Amtsgericht Tiergarten:
Herr K. machte seine Aussage. Die Herren Bolek und Gottlob warteten vor dem Saal. Herr K. schilderte detailreich, was damals passiert war. Der Vorsitzende, Herr Richter am Amtsgericht Retnak, glaubte ihm nicht. „Das macht doch gar keinen Sinn, Herr K.! Ich habe nicht den geringsten Grund, einem Polizisten zu misstrauen. Warum sollte ein Polizeibeamter das Gericht belügen?“
Der Richter ließ Herrn Bolek hereinrufen. Der machte seine erwartete Aussage (siehe oben). Die Frage des Richters, ob er denn den grauen BMW zwischenzeitlich einmal aus den Augen verloren hätte, verneinte er: „Nein, den hatten wir die ganze Zeit im Blick. Eine Verwechslung ist ausgeschlossen.“
Der Richter gab das Fragerecht an den Verteidiger. „Haben Sie noch eine Frage?“
Das hatte er. „Herr Bolek, mein Mandant hat hier heute eine etwas andere Geschichte erzählt. Er selbst könne unmöglich vor Ihnen an der Tankstellenausfahrt vorbeigefahren sein. Denn an eben dieser Tankstelle habe er zuvor getankt. Beim Bezahlen hätten Sie vor ihm an der Kasse gestanden und eine Bockwurst und eine Knacker gekauft. Danach habe er mit seinem grauen BMW an der Ausfahrt der Tankstelle gestanden und warten müssen. Ein Auto habe vor ihm gestanden. Zwei Fahrzeuge hinter sich habe er Ihren Bulli im Rückspiegel ebenfalls stehen und warten sehen. Sobald es möglich war, sei er auf den Kurt-Schumacher-Damm gefahren. Die Ampel habe er bei ‚Grün’ genommen. Dann sei er nach rechts auf die Autobahn gefahren. Zwei Kilometer später sei er dann von Ihnen angehalten worden.“
Herrn Bolek beeindruckte dies nicht. Menschen mögen irren; Polizisten tun dies nicht. „Ha, unmöglich. Wenn das stimmt, dann muss er ja ’ne Tankquittung haben. Soll er die doch mal zeigen.“
Der Verteidiger machte eine Kunstpause. Drei Sekunden zählte er im Kopf ab. Dann zog er aus seiner Handakte eine Quittung und lies daraus vor: „03.04.2013, 17:15:10; JET Tankstelle, Kurt-Schumacher-Damm 36; 64,34 Liter Super, 106,10 EUR“.
Kurzes Schweigen. Danach aber hatte sich Herr Bolek schon gefasst und rief, den Sieg sicher vor Augen: „Ha, so eine Quittung kann ja jeder haben. Wer sagt denn, dass das die von dem da ist?“ Mit „dem da“ meinte er den Mandanten.
Noch einmal zählte der Verteidiger im Kopf drei Sekunden herunter. Dann fasste er erneut in seine Handakte und zog nunmehr eine Kreditkartenabrechnung von American Express hervor und zitierte daraus: „Herrn C. K. [Adresse]; 03.04.2013, JET Tankstellen Deutschland GmbH; 106,10 EUR“.
Höchste Zeit für den Richter, das Verfahren wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Hier lief gerade viel zu viel aus dem Ruder. „Zeigen Sie mal her, Herr Verteidiger!“ Dieser reichte ihm Quittung und Abrechnung im Original. Richter Retnak las lange darin. „Haben Sie dafür eine Erklärung, Herr Bolek?“ – „Nein, habe ich im Moment nicht.“ – „Hm. … Na, dann rufen wir mal Ihren Kollegen rein.“
Herr Bolek nahm im Zuschauerraum Platz. Herr Gottlob wurde hereingerufen. Auch der machte seine erwartete Aussage (siehe oben). Und wieder die Frage des Richters, ob sie denn den grauen BMW zwischenzeitlich mal aus den Augen verloren hätten. „Nicht wirklich. Ganz zum Anfang an der Auffahrt zur Autobahn konnten wir ihn kurz nicht sehen, weil er da ja abgebogen ist. Und später haben wir ihn dann noch mal kurz verloren. Aber nur nen halben Kilometer oder so. Wir haben ihn dann schnell wiedergefunden.“ – „Ihr Kollege hat hier eben gesagt, dass Sie das Fahrzeug die ganze Zeit im Blick hatten.“ – „Ach so? Ja, wenn er das so sagt. Ich weiß nicht. Ist schon ganz schön lange her.“ Weshalb der Verteidiger in diesem Moment nicht seine Beherrschung verlor, ist ihm bis heute ein Rätsel.
An dieser Stelle sei – zum besseren Verständnis dessen, was weiter folgt – eingeschoben, dass Richter Polizeibeamten ein fast schon blindes Vertrauen entgegenbringen. Dies hat einen einfachen Grund: Die Glaubwürdigkeit des Polizeibeamten ist das Fundament, auf dem die Verkehrsgerichte stehen. Das gesamte System der Verfolgung und Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten würde in sich zusammenbrechen, wenn die Richter den Polizeibeamten nicht mehr glauben könnten. Ein Verteidiger, der es auf die Glaubwürdigkeit des polizeilichen Zeugen abgesehen hat, zielt auf das Fundament des Gerichts, das dem Verkehrsrichter Arbeit gibt. Dies lässt, wer kann es ihm verdenken, kein Richter einfach so geschehen.
Auch Herr Richter Retnak ließ dies nicht geschehen: „Also, ich beende das jetzt hier. Herr Gottlob, Sie können gehen. – Herr Verteidiger, ich habe keinen Zweifel, dass das Ihr Mandant war, der da bei ‚Rot’ gefahren ist. Ein Polizist, der lügt, wäre eine solche Ungeheuerlichkeit, dass ich sie mir nicht vorstellen mag. Dennoch kann ich Ihren Mandanten nicht verurteilen. Es bleiben Zweifel. Vor allem frage ich mich, wie Sie das gemacht haben. Das Verfahren wird daher eingestellt. Die Sitzung ist damit beendet.“
Einstellung. Kein Freispruch. Ein Triumph sieht anders aus. Aber als Verteidiger lernt man leiden.
Warum kein Freispruch? Weil sich Herr Richter Retnak dann mit den Aussagen der beiden Polizeibeamten hätte auseinandersetzen müssen. Schwarz auf weiß hätte er dann aufschreiben müssen, dass einem Polizeibeamten nicht mehr geglaubt werden kann als jedem anderen Zeugen. Wenn überhaupt. Und was jeder andere Zeuge taugt, hatte Egon Schneider schon vor Langem treffend formuliert: „Die Zeugenaussage ist das praktisch wichtigste und zugleich mit Abstand schlechteste Beweismittel.“ Mit einem Freispruch hätte Herr Retnak daher, wie gesagt, an den Grundfesten des Gerichts gerüttelt, in dem er sein Brot verdient. Und das wäre nun wirklich zu viel verlangt gewesen.
Bleibt noch eine Frage unbeantwortet, die Frage von Richter Retnak: „Warum sollte ein Polizeibeamter das Gericht belügen?“ Spätestens seit der hysterischen Reaktion der Deutschen Polizeigewerkschaft und des Bundes Deutscher Kriminalbeamter auf die Verurteilung Wolfgang Daschners, der als Vizepräsident der Frankfurter Polizei einem Verdächtigen Folter angedroht hatte, wissen wir, was Polizeibeamte von Gesetzen, Rechtsprinzipien, Grundrechten u. dgl. halten: nicht sehr viel. Wahrheitsgemäße Aktenvermerke anzufertigen und als Zeuge wahrheitsgemäß Auskunft zu geben, führt – vor allem natürlich mit Hilfe anwaltlicher Tricks – am Ende nur zu etwas, was zwar dem Buchstaben des Gesetzes entspricht, in der Welt eines deutschen Polizeibeamten aber schieres Unrecht darstellt. Um dem entgegenzuwirken, ist es nötig, vor Gericht die Wahrheit ein wenig zu biegen. Ein Pkw, der zwischendurch 2-mal aus den Augen verloren und deshalb möglicherweise verwechselt worden ist, kommt in einer solchen Wahrheit nicht vor. Die Welt vor fintenreichen Anwälten und gesetzestreuen Richtern zu bewahren (bzw. vor „fatalen Konsequenzen“, wie sie Klaus Jensen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter vom Urteil gegen seinen Kollegen Daschner erwartet) – allein dieser Aufgabe sieht sich ein Polizeibeamter verpflichtet, wenn er als Zeuge vor Gericht aussagt. Am Ende, Herr Retnak, sprechen Sie deshalb nicht Recht, sondern nur das, was ihr polizeilicher Zeuge für Recht hält.