Der Anspruch auf Ersatz der den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigenden Reparaturkosten wird im Regelfall sofort und nicht erst sechs Monate nach dem Unfall fällig (zur Fälligkeit des fiktiven Schadensersatzes nach einem Unfall: LG Berlin, Urteil vom 30. März 2022 – 42 O 324/21).
Wer nach einem Unfall mit seinem Kfz den Schaden fiktiv abrechnet, also auf der Basis eines eingeholten Gutachtens die Reparaturkosten ersetzt verlangt, bekommt mit dem gegnerischen Versicherer oft Schwierigkeiten. Gerne versuchen die Versicherer nämlich, den Schaden nicht als Reparaturschaden abzurechnen, sondern als Totalschaden. Die Versicherer behaupten dann, dass vor Ablauf von sechs Monaten nur die Wiederbeschaffungskosten zu ersetzen wären, nicht die Reparaturkosten. Doch dies ist nicht wahr.
Dieses Problem entsteht immer dann, wenn bei einer Abrechnung des Schadens nach Gutachten der Wiederbeschaffungsaufwand (also der Wiederbeschaffungswert abzgl. dem Restwert) unter dem Reparaturkostenbetrag liegt (siehe auch hier: „Variante 3: (WW – RW) < RK ≤ WW“)). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nämlich können in einem solchen Fall anstelle des Wiederbeschaffungsaufwands die geschätzten Reparaturkosten nur dann ersetzt verlangt werden, wenn das Fahrzeug noch mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiter genutzt wird (vgl. BGH, Urteil vom 23. Mai 2006 – VI ZR 192/05 –). Aus dieser Rechtsprechung glauben die Versicherer regelmäßig schlussfolgern zu können, mit der Erstattung der geschätzten Reparaturkosten sechs Monate warten zu dürfen.
Höchstrichterlich ist dieser Fall noch nicht entschieden. Der Bundesgerichtshof hat sich zu dieser Frage ausdrücklich bislang nur für den Fall einer konkreten Schadensabrechnung geäußert, für den Fall also, dass eine Reparatur tatsächlich durchgeführt und eine Rechnung hierüber vorgelegt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 18. November 2008 – VI ZB 22/08 –). Für den Fall einer fiktiven Schadensabrechnung aber, also für den Fall, dass keine Rechnung, sondern ein Gutachten zur Schadenshöhe vorgelegt wird, hat sich der Bundesgerichtshof bislang noch nicht ausdrücklich geäußert. Dass aber auch in einem solchen Fall grundsätzlich die Reparaturkosten sofort und nicht erst nach sechs Monaten zu erstatten sind, hat nunmehr das Landgericht Berlin in einem von mir erstrittenen Urteil bestimmt und sich damit der Rechtsprechung des Landgerichts Köln und des Landgerichts Rottweil angeschlossen.
In seiner Entscheidung räumt das Landgericht Berlin auch mit dem regelmäßigen Versuch der Versicherer auf, sich bei der Ablehnung der Zahlung der Reparaturkosten auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 23. November 2010 – VI ZR 35/10 –) zu stützen, die die unrichtige Ansicht der Versicherer scheinbar bestätigt. Der 2. Leitsatz jener Entscheidung ist missverständlich. Dort heißt es nämlich:
Vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist kann der Geschädigte, der sein Fahrzeug tatsächlich repariert oder reparieren lässt, Reparaturkosten, die den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, regelmäßig nur ersetzt verlangen, wenn er den konkret angefallenen Reparaturaufwand geltend macht.
Beim Lesen der gesamten Entscheidung des BGH offenbart sich jedoch, dass es sich bei dem Begriff „vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist“ um eine unglückliche Formulierung handelt, die zu Missverständnissen einlädt. Weniger missverständlich wäre eine Formulierung etwa wie „ohne Ablauf der Sechs-Monats-Frist“ gewesen. Denn in den Gründen der Entscheidung geht es tatsächlich nicht um die Frage der Fälligkeit der fiktiven Reparaturkosten vor Ablauf von sechs Monaten. Die Entscheidung behandelt vielmehr einen Fall, in dem der Geschädigte sein Fahrzeug bereits nach gut vier Monaten verkauft hatte (in dem es zu einem Ablauf der Sechs-Monats-Frist also gar nicht mehr kommen konnte), wodurch er sein Integritätsinteresse selbst widerlegt hatte. Das Landgericht Berlin hält hierzu fest:
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. November 2010 – VI ZR 35/10 -, welche regelmäßig als Begründung für ein Nichtbestehen eines Anspruchs auf fiktive Reparaturkosten vor Ablauf von 6 Monaten herangezogen wird, der dortige Kläger sein Fahrzeug vor Ablauf von 6 Monaten verkauft hatte und trotzdem fiktive Reparaturkosten ersetzt verlangte. In diesem Fall stand mithin fest, dass ein hinreichendes Integritätsinteresse nicht vorhanden war. Hieraus kann im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, dass grundsätzlich vor Ablauf von 6 Monaten ein Geschädigter keine fiktiven Reparaturkosten verlangen kann, die sich zwischen Wiederbeschaffungswert und Wiederbeschaffungsaufwand befinden.
Das vollständige Urteil finden Sie hier.